Musik | Hörtest

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Wilco – Yankee Hotel Foxtrot

16. Oktober 2023
von Moritz Morsch

Zahlensender haben eine interessante Geschichte: Sie sind ein Relikt aus dem Kalten Krieg, die dank Kurzwellentechnologie verschlüsselte Zahlen- und Buchstabenreihenfolgen an im „feindlichen“ Ausland stationierte Agenten übermittelt werden konnten. Die Technologie hat den Vorteil, dass die Übertragungen nur von denjenigen entschlüsselt werden können, die die entsprechenden Chiffre kennen und dass diese Personen auf der ganzen Welt verteilt sein können. Der Nachteil liegt darin, dass alle Menschen die Übertragungen mithören und -schneiden können. Ein Glücksfall für Wilco, die eines Tages die LP The Conet Project: Recordings of Shortwave Numbers Stations in der Hand hielten.

So liefern die monoton vorgetragenen Zahlen- und Buchstabenreihen den Hintergrund zu einem monumentalen Stück Indierock-Geschichte. Yankee Hotel Foxtrot, wie eine roboterhafte Frauenstimme im Song Poor Places vorträgt, ist ein bahnbrechendes Meisterwerk, mit dem Wilco ihren Sound völlig perfektionierte. Im Ergebnis wurde (und wird) das Album über den Indierock hinaus geliebt und gelobt. Yankee Hotel Foxtrot fängt die Essenz der menschlichen Gefühle ein und präsentiert sie in einer Klanglandschaft, die gleichzeitig kühn und einfühlsam ist. Von den eindringlichen Texten bis zur Vielfalt der musikalischen Elemente, die von Folk über Rock bis hin zu experimentellem Sound reichen, ist dieses Album ein Genuss für die Sinne. Jeder Song erzählt eine Geschichte, die tief unter die Haut geht, und Jeff Tweedys eindringliche Stimme verleiht jedem Lied eine unverwechselbare Magie. Yankee Hotel Foxtrot ist ein zeitloses Meisterwerk, das immer wieder gehört werden kann, und es ist zurecht in die Musikgeschichte eingegangen.

Dabei sah es am Anfang weniger danach aus. Wilco nahm das Album während einer Zeit großer Unsicherheit auf. Die Plattenfirma Reprise Records lehnte das Album ab, da sie es als zu experimentell und nicht kommerziell genug ansah. Als Reaktion auf die Weigerung der Band, kommerzielle Kompromisse einzugehen, kündigte Reprise daraufhin den Vertrag mit Wilco. Aufgrund dessen veröffentlichte die Band das Album schließlich als Stream auf ihrer Website. Das war 2001 ein Novum. Schließlich wurde das Indie-Label Nonesuch Records – ausgerechnet eine Tochter von Reprise – auf die Band und das Album aufmerksam und half der Musik von Wilco damit, eine neue Heimat zu finden.

Die Labelprobleme waren typisch für die Bandgeschichte von Wilco. Geprägt ist sie von ständiger Weiterentwicklung und kreativer Neugier. Gegründet wurde sie von Jeff Tweedy, der zuvor Mitglied der Alternative-Country-Band Uncle Tupelo war, bis die Differenzen zwischen den kreativen Köpfen der Band, Tweedy und Jay Farrar, ein Fortbestehen der Band unmöglich machten. Parallel zu Tweedys Wilco gründete Farrar die Band Son Volt und die Konkurrenz zwischen den beiden neuen Projekten ist ein wesentlicher Grund für die kreative Weiterentwicklung Wilcos. So hat die Band im Laufe der Jahre ihren Sound verfeinert und erweitert, auch dank Tweedys neuem kongenialen Partner Jay Bennett. Gleichzeitig ist das Album aber sowohl Höhe- als auch Endpunkt des Kreativduos Tweedy/Bennett. Yankee Hotel Foxtrot markiert einen Wendepunkt in ihrer Karriere, da es eine Abkehr vom traditionellen Alternative Country hin zu einem experimentelleren, vielseitigeren Stil darstellt.

 

Electronic Surgical Words – Die Lieder aus Yankee Hotel Foxtrot

Der Opener I Am Trying to Break Your Heart, führt mit einer dissonanten Kakophonie direkt hinein in eine Welt der Unsicherheit und des Zweifels. Doch aus diesem Chaos entsteht Schönheit, und es ist, als ob sich die Songs im Laufe des Albums entfalten und man auf eine musikalische Reise mitgenommen wird. Der Song mit seiner Länge von fast sieben Minuten driftet immer wieder in dissonante Passagen rein und wieder raus und repräsentiert nicht nur den Band-Sound perfekt, sondern dient mit Textzeilen wie „I am an American aquarium drinker / I assassin down the avenue“ oder “Take off your Band-Aid because I don‘t believe in tochdowns / What was I thinking when we said hello“ auch als Paradebeispiel für die Textqualitäten Jeff Tweedys. Gemischt und co-produziert wurde I Am Trying To Break Your Heart wie der Rest des Albums auch von Jim O‘Rouke, dessen experimentelle Herangehensweise ihn prophezeien ließ, dass die Band dadurch von Reprise Records vor die Tür gesetzt werden würde.

Das Level an Soundexperimenten ist aber nicht auf Albumlänge so hoch wie im Opener: Kamera ist ein poetischer, wenn auch einfacher Song, der sich mit der Vergänglichkeit des Lebens befasst, während Radio Cure eine introspektive Note einführt und zum Nachdenken über  eigene Beziehungen und Isolation anregt, während er mit einer sehr sparsamen Instrumentierung und der bewusst zerbrechlich klingenden Stimme Jeff Tweedys auskommt.

Dank der experimentellen Klanglandschaften in Tracks wie War on War wird die Vielseitigkeit von Wilco deutlich. Dieser Song kombiniert gekonnt akustische Elemente mit elektronischen Texturen und erzeugt so eine einzigartige Stimmung, die zum Nachdenken anregt.

Mit Ashes of American Flags wird man von Wilco mit auf eine Reise durch die amerikanische Landschaft und die verschiedenen Facetten des Landes genommen. Dieser Song fängt die Ambivalenz und die Schönheit der USA auf eindringliche Weise ein. Mit den Outro-Zeilen „I would like to salute / The ashes of American flags / And all the fallen leaves / Filling up shopping bags“ enthält das Lied ein düster anmutendes Statement, wenn man bedenkt, dass das Album ursprünglich am 11. September 2001 veröffentlicht werden sollte. Das ist nicht der einzige solche Moment auf dem Album, man betrachte allein die Textzeile „Tall buildings shake / Voices escape / Singing sad, sad songs“ des Songs Jesus, etc.

Jesus, etc. ist zweifellos einer der herausragenden Tracks auf Yankee Hotel Foxtrot. Dieser Song zeichnet sich durch eine außergewöhnliche Melodie und raffinierte Texte aus. Die Zeile „Jesus, don’t cry / You can rely on me, honey“ klingt tröstlich und herzergreifend zugleich. Das Arrangement ist subtil und komplex, wobei die Streicher und die Gitarre einen warmen Klangteppich erzeugen. Dieser Song zieht einen in seine verträumte Stimmung und erzeugt ein Gefühl der Verbindung und Trost.

Im krassen Gegensatz dazu steht Heavy Metal Drummer. Der Song versprüht eine nostalgische Unbeschwertheit und ist ein kraftvoller Ohrwurm, in dem sich Jeff Tweedy in seine Jugendzeit zurückversetzt und erklärt: „I miss the innocence I‘ve known / Playing Kiss covers, beautiful and stoned“.

Poor Places ist ein besonders faszinierender Track, der das Album zu einem eindrucksvollen Finale führt. Die Worte „Sirens ringing / I haven’t heard them in years“ erzeugen ein Gefühl von verblasster Erinnerung und Nostalgie. Das Lied selbst entwickelt sich von einem sanften Anfang zu einem intensiven Crescendo, durch das man in einen Strudel aus Klang und Emotionen gezogen wird. Die Kombination aus akustischen und elektronischen Elementen schafft auch hier eine einzigartige Klanglandschaft, die die Unsicherheit und Zerbrechlichkeit des Lebens einfängt bis es mit einem sich wiederholenden „Yankee… Hotel… Foxtrot“ vom Band eines Zahlensenders endet.

Mit Reservations erreicht das Album seinen Höhepunkt in Sachen emotionaler Tiefe. Die Textzeile „I’ve got reservations / About so many things / But not about you“ drückt eine ehrliche Verwundbarkeit aus. Dieser Song schafft eine intime Atmosphäre, wodurch ein direkter Einblick in die Gedanken Tweedys ermöglicht wird. Die Verwendung von Found Sounds, also im engen Sinne nicht-musikalischen Geräuschaufnahmen, im Hintergrund verstärkt das Gefühl von Geheimnis und Unsicherheit, was das Albumthema der Isolation und der Suche nach Verbindung weiter vertieft. Abschließend wird man mit einer Instrumentalpassage, die zwar experimentell aber doch ruhig und entspannend ist, aus dem Album entlassen.

 

 

There’s bourbon on the breath / Of the singer you love so much – Was Yankee Hotel Foxtrot so besonders macht

Yankee Hotel Foxtrot ist ein Album, das mit subtilen Details und Texten voller Bedeutung durchtränkt ist. Die Verwendung von Zahlenstationen und anderen Found Sounds verleiht dem Werk eine zusätzliche Schicht an Rätselhaftigkeit und verbindet die Songs auf eine tiefgründige und kreative Weise. Dieses Album ist eine musikalische Reise, die dazu anregt, über das Leben, die Liebe und die menschliche Erfahrung nachzudenken. Es ist ein Album, das bei jedem Hören neue Nuancen offenbart. Es ist eine Reise der Selbstreflexion und ein künstlerisches Meisterwerk, das die Grenzen der Musik erkundet. Dieses Album hat eine Generation von Musikfans inspiriert und wird zweifellos noch viele weitere inspirieren. Es ist ein zeitloses Juwel, das in der Geschichte der Musik fest verankert ist.

Gleichzeitig ist Yankee Hotel Foxtrot ein Album, das Mut zur Innovation zeigt und tief in die menschlichen Emotionen eintaucht. Es hat die Art und Weise, wie wir über Musik denken, verändert, und seine Einflüsse sind in zahlreichen nachfolgenden Werken hörbar. Yankee Hotel Foxtrot ist nicht nur ein Meilenstein für Wilco (und vielleicht der Höhepunkt ihrer ohnehin schon qualitativ hochwertigen Diskographie), sondern auch für die gesamte Musikwelt.

 

Foto: Wilco / Nonsuch Records