Musik | Interview

Zeitreisende soll man nicht aufhalten – Molchat Doma im Interview

4. Januar 2021
von Benjamin Kübart

In einer vernebelten Halle zwängt sich das Publikum aneinander. Im Nebel brechen Scheinwerfer das farbige Licht und lassen die drei schwarzgekleideten Figuren auf der Bühne unnatürlich schemenhaft aussehen. Es beginnt mit einer analogen Drummachine. Die Synthesizer setzen ein, eine monotone Stimme legt sich hallend auf den Beat. Sie klingt ernst. Sie singt von Depression und Selbstmord. Doch der Raum fällt in Ekstase. Marty McFly brauchte einen DeLorean, aber das Publikum braucht keinen Lada, um zu wissen was passiert: So müssen sich Zeitreisen anfühlen.

Molchat Doma. Der Name der Band aus Minsk, die 2017 auf der Bildfläche des New-Wave und Post-Punk erschienen ist, bedeutet auf Deutsch „schweigende Häuser“. Ihr Sound findet sich irgendwo zwischen Joy Division, Kraftwerk und der russischen Kultband Kino. Jeder Song trägt ein Nostalgiegefühl mit sich und vermittelt Bilder. Von Industriehallen, grauen Plattenbauten und einem was-wäre-wenn der Sowjetzeit in den 1980ern.

Wie würdet ihr euren Sound beschreiben?

„Traurig, melancholisch und lebendig.“

Nicht nur Sound, sondern auch die russischen Texte strotzen vor Melancholie. Trotzdem bewahrt die Musik, die scheinbar aus einer Zeitkapsel kommt, ihre Tanzbarkeit. Sie begeistert nicht nur Zuhause: Mannheim, Helsinki und Toronto stehen auf der Tourliste für das späte Jahr 2021. Die Band gibt sich im Textinterview eher wortkarg. Auch ihr musikalisches Schaffen wirkt irgendwie unnahbar. Zeigt die Begeisterung für dieses Fremde die Grenzen des ehemaligen eisernen Vorhangs deutlich auf, so reißt sie ihn dann mit Freude auf einem musikalischen Höhenflug wieder ein.

Ein großer Teil eurer Fanbase versteht die Texte eurer Songs nicht. Ist das seltsam für euch?

„Ein Großteil der Hörer hat absolut keine Ahnung wovon ausländische Interpreten singen, aber das beeinflusst nicht den Hörgenuss. Im Fall von Molchat Doma ist das ähnlich. Die Chemie stimmt.“

Die Männer, die das erreicht haben, sind Pavel Kozlov an Bass und Synthesizer, Roman Komogortsev, der neben Gitarre und Synthesizer die kultig klingenden Drummachines bedient, sowie Sänger und Frontmann Egor Shkutko. So wie ihre Fans sich mit der russischen Sprache schwertun, haben sie Probleme mit dem Englischen. Aber das soll sie nicht aufhalten.

Was ist euer musikalischer Hintergrund und wie hat alles angefangen?

„Egor und Roman haben zusammen studiert, so haben wir uns getroffen. Das war 2010. Unsere Arbeit als Molchat Doma haben wir erst um 2016 aufgenommen. Egor hat damals noch Bass gespielt und unser Freund Aleksey war noch dabei. Damals haben wir einige Songs geschrieben, die später auf unserem ersten Album erschienen sind, aber nach Streitigkeiten ist Aleksey ausgetreten.
Das hat uns dazu gebracht darüber nachzudenken was wir als nächstes tun sollten – und dann kam uns die Idee Egor als Sänger auszuprobieren. Heute scheint uns das eine gute Idee gewesen zu sein. Verschiedene Bassisten sind gekommen und gegangen und irgendwann war Pavel dabei. So spielen wir bis heute.“

Ihr erstes Album erschien 2017 noch als Self-Release. Im Vergleich zu seinen Nachfolgern ist der Mix etwas roher, Knacken und Knarren ist zu hören. Trotzdem entfremden sie sich nicht von der Idee und bleiben ihrem Sound treu.  Die Erfolgsgeschichte nimmt 2018, mit dem zweiten Album Этажи (Etazhi, auf Deutsch „Böden“) Fahrt auf. Auf dem Cover prangt das Bild der surrealen Architektur eines stalinistischen Apartmentblocks im Stil des slowakischen Hotels Panorama.

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Der Titel Судно (Sudno) wird mehrfach auf YouTube hochgeladen und – bis heute – über 24 Millionen mal aufgerufen. Der Song wird zu einem TikTok Meme in dem Teenager sich im Retro- oder Goth-Look kleiden und tanzen. Er wird zu einem Symbol der Doomer-Kultur, in der ein schlechter Tag den nächsten jagt und füllt stundenlange „Russian Doomer“ Playlists auf YouTube.

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Dabei steht die Romantisierung zum Meme der ernsten politischen Lage in Belarus mit sattem Kontrast gegenüber: Um spielen zu dürfen, muss ein sogenanntes Tour-Zertifikat beantragt werden. Ein sechsköpfiges Gremium überprüft dazu, wie kritisch die gespielte Musik ist, wie sie klingt und wie Künstler und Künstlerinnen aussehen. Gibt es eine Absage, wird an den Veranstaltungsorten überprüft, ob es trotzdem zu einem Auftritt kommt.

Die Viralität des Tracks im Internet ist allerdings unantastbar. Und viral trifft es gut. So passt die Dystopie auch zu der durch das Coronavirus hervorgerufenen Pandemie. Genau in dieser erschien im November 2020 ihr neues Album Monument. Ein Monument sieht man auch auf dem Cover: Drei Hände aus Stein strecken Hammer, Sichel und Fackel in die Höhe.

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Erzählt uns etwas über den Schaffensprozess eures neuen Albums „Monument“. Wurde es durch die Pandemie beeinflusst?

„Als wir von der letzten Tour zurückgekommen sind haben wir uns dazu entschieden, dass wir uns etwas Zeit bis zur nächsten lassen wollen, um am Album zu arbeiten. Plötzlich begann die Pandemie und uns wurde klar, dass wir mehr als genug Zeit haben würden.Einige der Songs waren schon geschrieben, aber der zweite Teil wurde aus der Quarantäne heraus erdacht und verbessert. Meine Familie war mit dem Coronavirus infiziert, ich musste behandelt und isoliert werden. Wir konnten uns nicht treffen und es gab es Fragen bei den Gesangsteilen. Nichtsdestotrotz waren dann alle gesund, wir konnten gemeinsam mit Gesang proben. Tatsächlich waren wir nur draußen, wenn es nötig war, auch wenn es keine klare Quarantäne in unserem Land gab. Ich habe in meiner Quarantäne an allen Teilen mit dem Synthesizer und den Drummachines gearbeitet. Mit dem Abmischen war es genauso. Parallel dazu hat Pavel die Bassspuren geübt und aufgenommen.“

Die Tour, von der Roman im Interview erzählt hat, endete im Frühjahr 2020. Die Anlaufstationen waren in der Größe von Clubs und Bars. Orte, an denen sich Menschen in Zukunft hoffentlich nur noch von den Vibes guter Musik anstecken werden.

Welche Erfahrungen habt ihr auf Tour mit eurem Publikum gemacht?

„Wir sind zerstört. Auf Tour haben wir die beste Zeit unseres Lebens. Wir vermissen das jetzt.“

Vermisst werden Konzerte im Allgemeinen, aber auch Molchat Doma im Speziellen. Wenn sie wiederkommen, dann ziehen die Clubs vielleicht auch Nostalgie- und Atmosphärensuchende an, die sich auch von Thom Yorkes sinnierenden Vocals oder Scott Bradlees Ragtime-Interpretationen berühren lassen. Auf die wichtigste aller Fragen gibt es nur eine einfache Antwort.

Was singt ihr unter der Dusche?

„Nein.“

Ob es an der Sprachbarriere oder der Unnahbarkeit liegt? Schweigende Häuser eben.

Foto: Molchat Doma