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Hörtest des Jahres: Woche 2

9. Dezember 2019

Nilüfer Yanya – Miss Universe 

Man hat den Eindruck in einer dieser lästigen Warteschleifen gelandet zu sein, schmeißt man Nilüfer Yanyas Debüt LP Miss Universe an, denn der Albumaufmacher WWAY Health beginnt mit eben dieser: einer Ansage, wie man sie vom Anrufbeantworter kennt. „Thank you for entering your details and welcome to WWAY Health.“ Dabei ist WWAY Health nur einer von insgesamt fünf Songs auf Miss Universe, die dieses Motiv beinhalten und das sonst komplexe Soundgebilde aus treibenden Synthies, Drummachines und hallenden Gitarren zu durchbrechen. Yanya changiert zwischen ruhigen Melodien (Melt, Safety Net, Tears) und solchen, deren Beat deutlich nach vorne geht (In Your Head, Heat Rises, Paradise). Mit viel Pathos im Gesang wechselt die 22-Jährige zwischen Indie, Jazz, Rock & Soul und verleiht dem Indie-Genre so einen progressiven Sound. Bei den vielschichtigen Arrangements entwischt einem oftmals auf Anhieb die textliche Tiefe, die sich auf Miss Universe auftut. “Cold, as I already know you won’t be there/ If I had seen that it was a dream/ Could you be here?” singt Yanya zum Beispiel in Baby Blu, bevor die betäubenden Synthies einsetzen und den Song tanzbar machen. Ein eigenwilliges Debüt mit vielen Höhepunkten, bei dem sich jedes Hören wie ein erstes Mal anfühlt.

von Isabela Przywara

Tyler, The Creator – Igor

Igor ist nicht „old Tyler“, eigentlich sogar zu weit entfernt von seinem 2011 Debüt Goblin um überhaupt einen Vergleich zu rechtfertigen. Und doch ist es irgendwie genauso wenig „new Tyler“ – wie ein zweites Flower Boy fühlt sich Igor auch nicht so recht an. Das Album trägt sich irgendwo wie das bipolare Adoptivkind zweier Seiten des selben Künstlers. Dröhnende Konzertpiano Arrangements, Hymnen an die Liebe und die Sehnsucht, ohne Zweifel aus der Feder des sensiblen Blumen-Jungen mit Vorliebe für das Grandiose, der keinen Akkord ohne 7,9, oder 11 notieren kann. Untergraben konstant durch den Goblin, der erzählt von Kriminalität, von Aggression, der einschüchtert mit dreckigem Synth-Bass und einer Stimme, die es in der Szene so nicht noch einmal gibt. Und irgendwo dazwischen bleibt – und ich kann mir nicht ganz erklären wie – Platz für Neues: Synth-Arpeggios, bei denen ich schwören könnte, sie wären direkt aus dem Stranger Things Intro gesampled, sind bei weitem nicht der einzige „Hö??“ Moment auf diesem wirklich sehr speziellen Album.

von Theo Hermann

Alex Cameron – Miami Memory

Sozialpolitische Themen verpackt in zuckrige Synthie-Pop-Sounds – das ist Miami Memory, das dritte Album des Australiers Alex Cameron. Der Mann ist eine Marke und eine ziemlich machohafte dazu. Denn bisher streifte sich Cameron gern mal sein Alter Ego eines gescheiterten Künstlers über, der alkoholumnebelte Altherrenfantasien zum Besten gab. Provokativ, aber stets mit unverkennbar kritischer Ironie. Mit Miami Memory macht seine Figur des Bar-Ottos einen gewaltigen Schritt nach vorne. In den Songs nimmt der wandelbare Cameron die Perspektiven verschiedenster Männerfiguren ein: der verständnisvolle Stepdad, der gestürzte Patriarch in der Ballade End Is Nigh oder der verzweifelte Ehemann in der überraschend heiteren Scheidungs-Hymne Divorce. Aber das Album erzählt nicht nur Geschichten, sondern gibt auch feministische Denkanstöße: Im schmissigen Far From Born Again schwingt sich die besungene Dame an die Stange und ertanzt sich mehr Geld als jeder Mann im Raum verdient. Manche Lyrics sind dabei so explizit, als würde man sich auditiv durch Camerons Unterwäschestapel wühlen (Stichwort „Eating your a** like an oyster“), aber genau wegen dieser hochromantischen Unverblümtheit ist Miami Memory für mich das Album des Jahres.

von Laura Koch

KUMMER – KIOX

Felix Kummer, der den meisten wohl als Frontsänger von Kraftklub bekannt ist, brachte dieses Jahr mit KIOX ein Soloalbum heraus, welches ich nicht allzu schnell vergessen werde. Ich war nach dem ersten Hören ein wenig überfordert von der Themenvielfalt, die KUMMER mit dieser Platte bietet. Mit dem Song 9010 erzählt der Chemnitzer Rapper von seiner Kindheit in seiner Heimatstadt und wie es war in dieser aufzuwachsen, während mit Aber nein diverse Teile der Musikindustrie kritisch betrachtet werden. Das Album ist geprägt durch eine starke Selbstreflektion und Schwermut, wobei auch gesellschaftskritische Aspekte immer wieder emporkommen. Soundtechnisch werden die Texte durch einen individuellen Trap Sound untermalt, der mal sehr kraftvoll und mal sehr ruhig wirken kann. KUMMER gelang es mit seinem Album einen eigenen Sound zu schaffen, der eine sehr erfrischende Alternative zu vielen anderen Deutschrap-Alben bietet, welche in diesem Jahr erschienen sind.

von Florian Plath

grim104 – Das Grauen, das Grauen

Auf Das Grauen, das Grauen spaziert grim104 auf einem Drahtseil zwischen Horrormärchen und bitterem Realitätscheck. Sechs Jahre nach seiner Debüt-EP Grim104 haut der Rapper, der sonst die eine Hälfte von Zugezogen Maskulin bildet, ein bitterböses Brett auf den Markt. Neben strukturell eher klassischen Tracks wie Graf Grim und Hölle sind es vor allem die Circa-Neunzigsekünder (This Great Evil oder Ratten im Gemäuer), die die grundlegend beklemmende Stimmung tragen. Gleichzeitig hat die Platte auch etwas berührend Befreiendes, weil ‚Grimmi‘ unter Schmerzen rauslässt, was schon zu lange unter der Oberfläche brodelt. Auf Abel ‘19 spielt er mit der rohen, urmenschlichen Angst vor dem Tod – die treibenden Synths und Trommeln im Background erinnern dabei an den Soundtrack zu Silent Hill 2. Teilweise brutal realistisch ausgekotzt, teilweise mystisch-metaphorisch versponnen geben sich die zehn Tracks gegenseitig kathartische Energie und bringen die traditionellen Geschichten von Nosferatu und Graf Dracula ästhetisch ins Berlin der 2010er Jahre. Das Grauen, das Grauen ist eine schmerzhafte Gesellschaftskritik, mit der grim104 mich völlig abgeholt hat.

von Romy Gerritzen

 

Reinhören in alle Alben könnt ihr in unserer „Hörtest des Jahres 2019“-Spotify-Playlist:

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